Unter Religionen verstehen wir Welt- und Menschenbilder, die auf der Autorität heiliger Schriften gründen, z. B. Veden, Thora, Koran, oder auf dem Vorbild herausragender Menschen, denen Heiligkeit oder Göttlichkeit zugesprochen wird, z. B. Buddha, Konfuzius, Jesus.
Zu diesen Weltbildern und den sie tragenden Institutionen, z. B. Kirchen, steht das autonome Denken der Philosophie grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis. Im 19. Jh. bestimmte die Vorstellung vom Tod Gottes – als ein epochaler Einschnitt oder als simpler Atheismus – den intellektuellen Diskurs.
Die Religionssoziologen der zweiten Hälfte des 20. Jh. entdeckten die Religion wieder: als verborgene Religion in den zahlreichen (spirituellen) Bausteinen, aus denen die modernen Menschen ihre Weltbilder und Lebensentwürfe zusammenstellen.
Der Zwiespalt zwischen der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod und der Erfahrung, dass der Geist an die vergängliche Materie gebunden ist, wird exemplarisch vorgeführt in Heinrich von Kleists Drama Prinz Friedrich von Homburg.
Friedrich beginnt einen Monolog mit den Worten „Das Leben nennt der Derwisch eine Reise ...“ Aufgrund einer militärischen Eigenmächtigkeit muss der Prinz mit seiner Hinrichtung rechnen. Er hat sein Grab schon gesehen und reflektiert nun über Leben, Tod und Jenseits. Der Monolog endet: „Zwar, eine Sonne, sagt man, scheint dort auch, / Und über buntre Felder noch, als hier: / Ich glaubs; nur schade, daß das Auge modert, / Das diese Herrlichkeit erblicken soll.“
Dieser Bibeltext markiert einen religionshistorischen Einschnitt. Abraham, in einer antiken heidnischen Kultur aufgewachsen, vernimmt den Ruf Gottes, ihm seinen einzigen Sohn zu opfern, und er folgt diesem Ruf.
Zwar wird ihm sein Gehorsam als Verdienst angerechnet, aber sein Handeln ist falsch. Der Gott Israels schickt seinen Boten, der die Ausführung des Opfers verhindert – die Zeit der Menschenopfer ist vorbei.
Für mich hat der Text darüber hinaus einen aufklärerischen Impuls: Wer den vermeintlichen Ruf eines Gottes nicht am eigenen sittlichen Bewusstsein überprüft, geht in die Irre.
Das 1969 erschienene Buch A Rumor of Angels: Modern Society and the Rediscovery of the Supernatural von Peter L. Berger (dt: Auf den Spuren der Engel: Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz 1970) ist inzwischen ein Klassiker der Religionssoziologie.
Berger weist in ihm die Zeitgebundenheit des atheistischen Paradigmas von Feuerbach, Marx und Freud auf und begründet anthropologisch die Möglichkeit von (christlicher) Theologie. Diese Begründung kann bruchlos in die These überführt werden, dass Religion auch in der Moderne vernünftig ist.
Die Bitte: „Erneuere unsere Tage“ bezeichnet am Ende der Klagelieder eine dramatische Wendung und ist Ausdruck der Hoffnung auf einen Neuanfang. In der jüdischen Liturgie spielt sie eine besondere Rolle, insofern sie das Gebet beschließt, mit dem die Thora nach der Lesung wieder in die heilige Lade eingehoben wird.
„Lehre uns unsere Tage zu zählen, damit wir Weisheit gewinnen / לִמְנוֹת יָמֵינוּ כֵּן הוֹדַע וְנָבִא לְבַב חָכְמָה / limnot jameinu kän hoda; we nawi lewaw chochma“ (Ps 90,12)
Das Wort Friede, Schalom“, שָׁלֹום, kommt in den Psalmen und in den Prophetenbüchern der Bibel häufig vor. Es meint weit mehr als politischen Frieden.
Etymologisch hängt es mit dem Verb schalam zusammen, das bedeutet, in einem umfassenden Sinne heil zu sein. So konzentriert sich in Schalom die Sehnsucht nach einer Welt, in der das Böse überwunden ist, einer Welt, die der Mensch erkämpfen soll und, in den Wegen Gottes – hier konkretisiert als Gerechtigkeit – wandelnd, auch erkämpfen kann.
Copyright: Gerhard Schüler